Begehung der historischen Siemensbahn zum Tag der Schiene 2025
19. September 2025, von Thomas Fülling





Bäume wachsen zwischen den Gleisen, Gebüsch umrankt die Stromschienen und Bauzäune versperren den Zugang zu den Bahnhofsgebäuden: Seit nunmehr 45 Jahren befindet sich die Siemensbahn im Berliner Nordwesten in einer Art Dornröschenschlaf. Doch das soll sich bald ändern. Die 4,5 Kilometer lange S-Bahn-Strecke wird reaktiviert. Im nächsten Jahr beginnen dafür die Bauarbeiten. Im Dezember 2029 und damit genau 100 Jahre nach der Eröffnung der Strecke soll dann erstmals wieder ein elektrischer S-Bahn-Zug zwischen den Stationen Jungfernheide in Charlottenburg und Gartenfeld in Spandau fahren. Das Vorhaben ist damit eines der am weitesten gediehenen Maßnahmen, die die Länder Berlin und Brandenburg im Projekt i2030 zum Ausbau und zur Erweiterung der Schieneninfrastruktur in der Region beschlossen haben.
Ende September hatten rund 100 Berliner die Möglichkeit, sich bei exklusiven Führungen zum bundesweiten Tag der Schiene vor Ort über den Projektstand zu informieren. Für viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollte es zu einer spannenden Zeitreise werden. Diese führte in die 1980er-Jahre, als die Strecke von der in der DDR angesiedelten Deutschen Reichsbahn faktisch über Nacht stillgelegt wurde. Im S-Bahnhof Siemensstadt etwa scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. An den Wänden im Eingangsbereich kleben noch immer Plakate, die für Reisen mit der Deutschen Bundesbahn werben. Auch die mit kleinen Fenstern und Durchreichen versehenen Schalter, wo einst Fahrkarten für die S-Bahn verkauft wurden, befinden sich – wenngleich durch Vandalismus arg ramponiert – noch im Originalzustand.
Dieser werde auch weitgehend erhalten bleiben, informierte Markus Hindahl bei dem Rundgang. Der 30-Jährige ist Verkehrsingenieur und gehört bei der Bahntochter DB InfraGO AG zu dem Team, das sich seit einiger Zeit um die Vorbereitung der Siemensbahn-Reaktivierung kümmert. „Das ist eine Herausforderung, denn die gesamte Strecke steht unter Denkmalschutz“, sagte er. Das bedeutet unter anderem, dass die verfallenen Bahnsteighäuschen nach historischen Vorgaben wieder aufgebaut und die Dachkonstruktionen im alten Stil erneuert werden. Auch die historisch belegte Farbgebung der Stahlkonstruktionen soll zurückkehren. „Anfangs hatten die Brücken und Viadukte eine blaue Farbe, später wurde diese mit grauem Rostschutz überstrichen“, so Hindahl. Wer genau hinschaut, kann an einigen Stellen der Viadukte das ursprüngliche Blau noch entdecken. Ganz ohne Veränderungen geht es jedoch nicht. Vor allem heute gültige Forderungen nach barrierefreier Zugänglichkeit von Verkehrsstationen sorgen dafür. So erhalten laut Hindahl alle drei Bahnhöfe an der Strecke einen Aufzug. Auch die Gestaltung der Treppenaufgänge werde an die aktuellen Vorschriften angepasst. Der Einbau von Fahrtreppen ist jedoch nicht vorgesehen.
Bei den Exkursionen erinnerten Hindahl und seine Kollegen vom Projektteam auch an die interessante Geschichte der Siemensbahn. Die in Jungfernheide von der Ringbahn abzweigende Strecke war am 18. Dezember 1929 nach nur knapp zweijähriger Bauzeit eröffnet worden. Planung, Finanzierung und Bau hatte der Siemens-Konzern übernommen, der den meist in anderen Teilen der Stadt wohnenden Arbeiterinnen und Arbeitern den Weg zu den damals stark prosperierenden Werken der Elektroindustrie erleichtern wollte. Die Akzeptanz war groß. Von den rund 90.000 Mitarbeitern, die Siemens zu dieser Zeit allein in Siemensstadt beschäftigte, sollen etwa 17.000 die im Fünf-Minuten-Takt verkehrende S-Bahn auf der Fahrt zu ihrem Arbeitsplatz genutzt haben.
Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich das Bild allerdings grundlegend. Der Siemens-Konzern, dessen Zentrale bedingt durch die deutsche Teilung nach München abgewandert war, beschäftigte in der Siemensstadt immer weniger Mitarbeiter. Viele West-Berliner boykottierten zudem die S-Bahn, weil diese nach dem Willen der Alliierten, von der DDR-Regierung unterstellten Deutschen Reichsbahn betrieben wurde. Die Reichsbahn revanchierte sich, in dem sie nur noch das Allernötigste in Gleisanlagen und Bahnhöfe des im Westteil Berlins gelegenen Netzes investierte. Nach dem großen Streik West-Berliner Reichsbahner, die im September 1980 vergeblich für mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen kämpften, stellte das Unternehmen den Verkehr auf einem Großteil der in den Westsektoren befindlichen Strecken ein. Auch die Siemensbahn gehörte dazu.
Ende 2026, also gut 45 Jahre später, sollen die Arbeiten zur Reaktivierung der Siemensbahn real beginnen. Der große Vorteil für die Planer: Die Strecke war nach 1980 nie entwidmet, also verkehrsrechtlich nicht aufgegeben worden. Daher gilt Bestandsschutz, zeitaufwendige Planfeststellungsverfahren, wie sie für Neubauten notwendig sind, können entfallen. Mit einigen Ausnahmen: So muss die Einfädelung der Siemensbahn in den S-Bahn-Ring neu gestaltet werden. An den Bahnhöfen Jungfernheide und Westhafen soll dafür ein separates Gleis mit Bahnsteig geschaffen werden. Der überwiegend in Dammlage verlaufende Streckenabschnitt von Jungfernheide über die Spree bis ans Spandauer Ufer wird laut DB InfraGO AG komplett neu geplant. Notwendig sind unter anderem die Erneuerung der Eisenbahnbrücke über den Tegeler Weg und der unteren Spreebrücke. Auch für die geplante neue Zug-Abstellanlage hinter dem S-Bahnhof Gartenfeld ist ein Planfeststellungsverfahren notwendig. „Die neuen S-Bahn-Züge mit ihren Klimaanlagen und neuen Warngeräuschen an den Türen erzeugen einen anderen Lärmpegel. Die Anlage wird daher eine Überdachung bekommen“, so Markus Hindahl vom Projektteam der Siemensbahn. Da im Bestand gebaut wird, kann auf hohe Lärmschutzwände entlang der Strecke verzichtet werden. Dennoch werden mehrere innovative technische Maßnahmen eingesetzt, um nach der Inbetriebnahme der Strecke die Lärmbelastung der Anwohner möglichst gering zu halten. Geplant sind etwa Unterschottermatten unter den Gleisen sowie Schienenschmieranlagen, die die metallischen Schleifgeräusche der Zugräder in den oft engen Kurven verringern sollen und die Erschütterungen erheblich dämpfen werden. Zudem erzeugen die S-Bahnzüge der neuesten Generation erheblich weniger Schallemissionen als die Züge aus den 1970ern.
Mit der Wieder-Inbetriebnahme der Siemensbahn will das Land Berlin vor allem die neu geplanten Wohn- und Gewerbegebiete besser mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschließen. 2018 hatte der Siemens-Konzern seine Entscheidung verkündet, seinen alten Berliner Standort zu einem Stadtquartier der Zukunft zu entwickeln. Bis 2035 entstehen in Siemensstadt dafür nicht nur zahlreiche Stätten für innovative Arbeit und Forschung, sondern auch tausende neue Wohnungen. 35.000 Menschen sollen einmal hier leben und arbeiten.